3 ½ Stunden – Was für ein merkwürdiger Titel für einen Film möchte man im ersten Moment denken. Wo ist da der Bezug zum Mauerbau? Noch dazu, wenn man das Titelbild mit Luisa-Celine Gaffron sieht. Okay, es geht also um eine Zugfahrt. Und der Bezug? Der ergibt sich erst als man erfährt, dass dieser Zug von München nach Ost-Berlin fährt und es noch 3 ½ Stunden bis zur innerdeutschen Grenze sind. Erst übers Radio hören die Reisenden, dass die DDR angefangen hat, die Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten hochzuziehen. Das stellt Alle vor die Entscheidung: weiterfahren, zurück in ihre Heimat, oder noch vor der Grenze aussteigen und im Westen bleiben? Also: für immer zurück oder nie wieder die Heimat sehen? Wie werden die Menschen sich entscheiden? Welche Gründe gibt es weiterzufahren? Was haben sie zu verlieren? Welche Wünsche oder Träume führen zu welcher Entscheidung?
Den Machern des Films ist es gelungen, ein ziemlich realistisches Abbild der Gesellschaft zu erschaffen.
In dem Mikrokosmos des Interzonenzuges von München nach Ost-Berlin treffen sie alle aufeinander: überzeugte Kommunisten auf Regime-Kritiker, junges Brautpaar auf altes Rentnerpaar. Dazu Münchner Kripobeamte, die jemanden suchen, der in drei ungeklärte Todesfälle verwickelt ist und möglicherweise Drogen schmuggelt. Und eine junge Band mit einer charismatischen Sängerin, die von einem West-Gastspiel zurückfährt. Auch sie stehen vor einer Zerreißprobe: zurück in den Osten, wo sie die Säle füllen oder weiter den Traum verfolgen von der großen internationalen Karriere. Ein ebensolcher Riss tut sich auf bei einer jungen Familie mit zwei Kindern auf: Sie ist überzeugte Parteifunktionärin, er ist Ingenieur und will Flugzeuge bauen, soll jetzt aber Erntemaschinen entwerfen. Sie weiß schon seit Tagen durch ihren Vater, Oberst bei der VP, vom geplanten Mauerbau. Aus Angst ihn zu verlieren hat sie ihm nichts davon erzählt.
Währenddessen bereitet sich im Osten die junge Lokführerin Edith darauf vor, den Zug am Grenzübergang im Westen zu übernehmen. Begleitet wird sie von einem jungen DEFA-Wochenschaureporter. Der soll einen Film machen über den Arbeitsalltag der ersten deutschen Lokführerin. Als sie an die Grenze kommen, muss er aussteigen, genau wie der Heizer. Nur Edith darf rüber „…für die paar Meter….“
Für die Reisenden wird die Zeit immer knapper. Wie soll man sich entscheiden? Wer steigt aus? Wer fährt weiter? Jeder Einzelne muss zwischen Für und Wider abwägen.
So erfährt der Zuschauer auch vieles über die damaligen Verhältnisse, was spricht für den sozialistischen Staat, was dagegen? Da stehen auf der einen Seite die soziale Absicherung, niedrige Mieten, preiswerte Lebensmittel, Emanzipation der Frauen; demgegenüber die Bespitzelung der Bürger durch die Stasi, Bevormundung der Bürger. Genauso werden aber auch die Argumente für und gegen den Westen ausgetauscht: Freiheit der Bürger, Träume selbst zu verwirklichen einerseits, Verfolgung Homosexueller und Bevormundung der Frauen, Alt-Nazis, die immer noch an entscheidenden Stellen sitzen andererseits.
3 ½ Stunden zeigt ein sehr schön differenziertes und ausgewogenes Bild von der Situation, wie sie sich für die Menschen seinerzeit darstellte.
Unter der Regie von Ed Herzog (Eberhofer-Krimis) agiert ein großartiges Darsteller-Ensemble aus bekannten Filmschauspielern wie Susanne Bormann (Letzte Spur Berlin), Jan Krauter (Solo für Weiß), Jördis Triebel (KDD, Blochin), Martin Feifel (Oktoberfest 1900), Uwe Kockisch (Donna Leon), Steffi Kühnert (Halbe Treppe), Peter Schneider (Usedom-Krimi), ergänzt um junge, groß aufspielende Schauspieler wie Luisa-Celine Gaffron, Alli Neumann und Jeff Wilbusch.
Möglich wurde das auch durch die phantastischen Dialoge von Robert Krause und Fraunholz („Freiheit ist hier drin und die kann mir niemand nehmen“ – Jeff Willbusch als Sasha) und mitreißende Musik. Die Lieder, die Alli Neumann singt, fügen sich nahtlos in die Handlung des Films ein und werden ebenso großartig von Ngo The Chau (Bildgestaltung) und Simon Blasi (Schnitt) in Szene gesetzt.
Einziger Wermutstropfen: die schlechte Recherche zur Lokführerin. Statt Dampflok hätte es eine Diesel-Lok sein müssen. Das nennt man dann wahrscheinlich künstlerische Freiheit…?
Insgesamt aber einer der gelungensten Filme zum Thema Mauerbau, den die ARD am 7. August 2021 zeigte und der jetzt auf DVD erschien. Unbedingt sehenswert!
3 ½ STUNDEN
Produktionsjahr: 2021, 1 DVD
Laufzeit: 89 min., Bildformat: 16:9,
Tonformat: Dolby Digital 5.1, FSK: Ab 12 Jahren, UVP: 12,95 €,
Quelle: ARD Degeto/REAL FILM/AMALIA Film/Bernd Schuller